Als kleines Manko des Space 1889-Hintergrundes empfinde ich die krasse Benachteiligung von Frauen.
Ich empfinde das nicht als Manko.
Natürlich wird sie historisch korrekt dargestellt.
Genau deswegen. Ich will ein mehr oder weniger historisches Setting und keine pseudo-PC, so wie es mich bei DSA seit Anfang an nervt.
Ein viktorianisches Setting mit vollständiger Gleichberechtigung der Geschlechter würde sich wohl komisch anfühlen(?). Und ja, Diskriminierung bietet immer auch rollenspielerische Möglichkeiten.
Absolut. Ein derartiger Gedanke ist bei einem solchen Setting m.M.n. völlig deplatziert.
Aber ich kenne mehrere Spieler und Spielerinnen weiblicher Charaktere, die um Settings mit zu klarer Diskriminierung von Frauen einen Bogen machen. Sie fühlen sich zu limitiert in ihrer Charakterauswahl. Sie haben keine Lust, im Rollenspiel auf noch krassere Weise mit den gleichen überholten Rollenmodellen konfrontiert zu werden, die sie im realen Leben schon nerven.
Dann sollen sie kein Rollenspiel mit historischem Hintergrund spielen. Ich z. B. mag es nicht, wenn ein historisches Setting in Richtung Emanzipation weichgebügelt wird. Und ich kann ehrlich gesagt auch keine Leute verstehen, die das gut finden. Den meisten Leuten, die ich kenne, ist dieser Aspekt aber völlig egal. Schon mal Gedanken darüber gemacht, dass man in einem Fantasysetting mit überholten Waffen kämpft? Oder dass man überholte Umgangsformen pflegt? Frauen haben historisch durchaus mal eine Rolle gespielt, sei es nun Johanna von Orleans oder Elisabeth I.. Wo also ist das Problem?
Der Space 1889-Band von Uhrwerk ist durchaus vorbildlich, weil er die Thematik nicht ausspart, Möglichkeiten für weibliche Charaktere auslotet und z.B. ein Kapitel über außergewöhnliche Frauen der Zeit enthält. Mir geht das noch nicht weit genug.
Mir schon.
Schließlich reden wir hier von einem pseudohistorischen Setting.
Nicht ganz. Der Hintergrund ist, was die Erde angeht, historisch korrekt bis auf ein paar Details. "Pseudohistorisch" wäre sowas wie 7te See, was in einer bestimmten Epoche, aber auf einer ganz anderen Welt spielt.
Viele Dinge haben sich anders entwickelt als in unserer Geschichte. Warum nicht ein paar Ereignisse der realen modernen Frauenrechtsbewegung um wenige Jahre nach vorne verlegen?
Falsch. Es gibt zwar in der Neuauflage bedauerlicherweise einige Änderungen zur realen Historie, die sind aber ausschließlich politischer Natur - vom Ätherflug und seinen Konsequenzen mal abgesehen. Gesellschaftlich befinden wir uns in allen Belangen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Oder anders ausgedrückt: Space: 1889 ist eine Alternativweltgeschichte, die sich von der realen Welt aber nur dadurch unterscheidet, dass Maxwell und Schiaparelli recht hatten.
Besonders zwei Details aus der Welt von Space 1889 eignen sich als Aufhänger:
Die Kommunarden. In Space regieren 1889 immer noch die Kommunarden in Frankreich, die sich in Wahrheit nur einige Wochen des Jahres 1871 behaupten konnten.
Das ist eine dieser Geschichtsänderungen, die ich mit "bedauerlich" meine.
Unter den Kommunarden entwickelte sich aber die (laut Wikipedia) erste feministische Massenorganisation. Ihre bekannteste Mitstreiterin war die Anarchistin Louise Michel, die mit um Paris kämpfte. Ich fände es nur logisch, wenn es im sozialistischen Frankreich von 1889 bereits ein Frauenwahlrecht gäbe und die Gleichstellung der Frau dort viel weiter fortgeschritten wäre als in den Nachbarländern.
Das Frauenwahlrecht in Europa ist eine direkte Folge des 1. Weltkriegs. Zwar gab es das schon vereinzelt auf lokaler Ebene, aber erst ab 1918 hat es sich angefangen durchzusetzen. Und nein, ich fände es nicht logisch, wenn die III. Republik so etwas hätte, weder die reale noch die fiktive.
(Das Regelbuch deutet das sogar an: Frauen dürfen in Frankreich studieren.)
Das war auch in der realen Welt so und hat nichts mit den Änderungen zu tun. Deswegen wanderte Marie Sklodowska ja auch von Warschau mach Paris aus, um Chemie zu studieren.
Zwar ist Frankreich in Space außenpolitisch eher isoliert. Aber einen Einfluss auf die Linke in anderen Ländern hätte das trotzdem. Man denke nur an die guten Argumente, die z.B. die SPD-Politikerin Clara Zetkin in Deutschland plötzlich an der Hand hätte. Denkbar wäre auch eine französische feministische Geheimorganisationen, die Frauenrechtsbewegungen in anderen Ländern unterstützt.
Da es, wie ich sagte, wahrscheinlich in Frankreich nicht so ist, wie Du es beschreibst, wird das auch keinen Einfluss auf andere Länder haben.
Die Marsianerinnen. Auf dem Mars ist die Gleichberechtigung offenbar viel weiter fortgeschritten. Man denke nur an die Steppenprinzessin aus den Archetypen, die sich über die Frauen des Roten Volkes lustig macht. Auch das muss eigentlich abfärben. Die Kultur der Marsianer wird von den Menschen zwar als unterlegen betrachtet.
Und genau dieser Jingoismus dürfte schon Grund genug sein, warum sich diese "rückständigen" Sitten nicht auf der Erde verbreiten würden.
Manchem britischen Mann wird die Gleichstellung von Mann und Frau sogar als Beispiel für die angebliche Degenerierung der dortigen Gesellschaft dienen. Dennoch, selbst im Grundregelband ist von einzelnen Menschen die Rede, die die Kultur des Mars differenzierter betrachten. Gerade die Britinnen haben sich historisch im Kampf um die Frauenrechte verdient gemacht. Würde sie der Anblick einer funktionierenden Gesellschaft mit voll integrierten Frauen kalt lassen? Wohl kaum!
Nicht nur manchem britischen Mann. Wenn man sich die viktorianische Gesellschaft ansieht, dann ist sie ziemlich eingefahren. Lies einfach mal ein paar Sherlock-Holmes-Geschichten, und Du wirst merken, wie die damalige Gesellschaft funktionierte.
1903, also nur 14 Jahre nach 1889, gründete Emmeline Pankhurst in Großbritannien die Woman’s Social and Political Union. Fortan sprach man von den “Suffragetten”. Sie traten offensiv für ein Frauenwahlrecht ein und benahmen sich auch sonst nicht wie brave Mädchen. Zum Beispiel – Skandal, Skandal – rauchten sie in der Öffentlichkeit! 1889 war Emmeline Pankhurst 31 Jahre alt und hatte gerade die Women’s Franchise League gegründet, einem Vorläufer der WSPU. Würde sie nicht unter dem Eindruck der französischen und marsianischen Beispiele früher in breiten Kreisen Gehör finden?
1980 wurde in Deutschland die Partei "Die Grünen" gegründet, welche sich für den Ausstieg aus der Atomenergie einsetzte. Erst 30 Jahre später wurde dieser endgültig beschlossen. Will sagen, historisch hat es immer Querdenker gesehen, die von der breiten Bevölkerung als Spinner angesehen wurden. Man denke nur an Darwin, um mal in der Zeit von Space 1889 zu bleiben. Bis sich deren Ideen durchgesetzt haben, hat es aber mindestens Jahrzehnte gedauert.
Für mein Spiel wird die Antwort “ja” lauten! Die Suffragetten sind bereits seit Mitte der 80er Jahre in aller Munde und fordern die weitgehende rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau. Durch ihren und den französischen Einfluss erheben sich immer mehr Frauen auf der ganzen Welt. Auch einige kluge Männer erkennen, dass die Sache der Suffragetten gerecht ist.
Was Du in Deinem Spiel machst, ist Deine Sache. Das betone ich auch an anderer Stelle immer wieder. Jeder soll so spielen, wie es ihm gefällt; erlaubt ist, was Spaß macht. Aber ich sage ganz deutlich, dass das für mich die Welt von Space: 1889 kaputt macht. Das Schöne ist doch gerade, dass man in einer Welt mit veralteten Vorstellungen lebt, in der man sich für die Krone der Schöpfung hält und kritiklos an den Fortschritt glaubt. Die althergebrachten Werte und der unglaubliche Jingoismus sind es doch gerade, die Space: 1889 von anderen SF-Settings unterscheidet. Ich will keine Political Correctness im Rollenspiel, wenn sie nicht angebracht ist. Ich will nicht, dass im zaristischen Russland, bei dem der Feudalismus bis 1917 dauerte, bevor er gewaltsam überworfen wurde, auf einmal Mitgefühl für die geknechteten Bauern entwickelt wird. Ich will nicht, dass die europäischen Mächte die Bewohner Afrikas (Neger sagte man damals, aber heute ist das pfui. Ich hätte aber keine Probleme, wenn dieses Wort ingame fällt, genau wie abschätzige Bezeichnungen für die Bewohner des Nachbarlandes) plötzlich als gleichwertige Menschen betrachtet werden. Und ich will nicht, dass Frauen auf einmal aus ihrer "angestammten Rolle" heraustreten. Kurz, ich will kein polisch korrektes Rollenspiel in einer Zeit, die nicht politisch korrekt war.
Was bringt’s? Interessantere Frauencharaktere. Archetypen wie die Erfinderin sind gesellschaftlich nicht mehr so isoliert, sondern können sich auf eine große Bewegung berufen.
Mal abgesehen davon, dass ich von jedem Rollenspieler erwarte, einen Charakter des jeweils anderen Geschlechts spielen zu können, gibt es diese auch so. Allerdings sind Frauen, die was in der Welt bewegen, stark von männlicher Gunst abhängig. Marie Curie hat ihre Nobelpreise (und das war 15 Jahre später) nur erhalten, weil ihr Mann darauf bestand. Er bestand auch darauf, dass sie überhaupt in seine Arbeiten eingebunden wurde. Ansonsten hatten Frauen als Schriftstellerinnen schon Ansehen. Egal, ob Mary Shelley, Ellen Key oder Bertha von Suttner: sie haben alle die Möglichkeit genutzt, ihre Gedanken auf Papier zu veröffentlichen. Frauen konnten als Lehrerinnen, Krankenschwestern, Gouvernanten, Köchinnen oder Zimmermädchen arbeiten und, wenn man z. B. an Florence Nightingale denkt, dort viel erreichen. Aber die klassischen Männerberufe waren ihnen eben verwehrt.
Was geht verloren? Nichts. Nicht jede Frau ist eine Suffragette und snobistische Ansichten bleiben unter viktorianischen Männern an der Tagesordnung. Die klassische Rollenverteilung ist noch überall zu finden und bleibt Teil des Rollenspielsettings. Sie ist nur nicht mehr das einzige, kaum hinterfragte Modell.
Was verloren geht, ist das historische Feeling. Die Emanzipation der Frau ist zu diesem Zeitpunkt noch die Privatmeinung einiger intellektueller Schriftstellerinnen, aber nicht der breiten Masse, die ohnehin zu beschäftigt ist, um sich über sowas Gedanken zu machen.
Fazit: Ich fordere Suffragetten in Space! 1889 war die Zeit von tollen Frauen wie Louise Michel, Clara Zetkin und Emmeline Pankhurst. Sie und ihre Mitstreiterinnen können den Hintergrund dieses Rollenspiels bereichern.
In Deiner privaten Rollenspielrunde kannst Du gerne das machen, was immer Dir beliebt. Im offiziellen Space: 1889 würde so etwas das Setting schlicht und ergreifend weichspülen und damit kaputt machen! Die Welt ist nun mal nicht gerecht. Und die Welt von 1889 noch weniger als die heutige. Es tut mir leid für meine teils schroffen Worte, aber was Du da vorschlägst, würde mir schlicht und ergreifend den Spaß an Space: 1889 vergällen. Ich bin in der Realwelt ein absoluter Befürworter der Emanzipation (und zwar echter Emanzipation und nicht von Quotenregelungen), aber in eine Welt von 1889 gehört es nicht rein, genauso wenig wie in ein Mittelaltersetting.
Was man als Rollenspieler als erstes lernen muss ist, sich in das Denken der Menschen des Spielsetting hineinzuversetzen, und nicht unsere moderne Denkweise dorthin portieren. Der mittelalterliche Mensch war ungebildet und abergläubisch, also wird ein entsprechender Charakter nicht lesen können, das glauben, was ihm erzählt wird (mangels anderer Informationsquellen) und moderne Technik, die er nicht versteht, als Teufelswerk ansehen. Ich persönlich bin ein absoluter Gegner der Todesstrafe; in einem Fantasysetting habe ich aber kein Problem damit, einen gemeinen Strauchdieb, der um sein Leben winselt, am Galgen baumeln zu lassen.
Oder anderes Beispiel: in einem Doctor-Who-Serial landet die Tardis bei den Azteken. Eine Begleiterin wird von den Azteken als wiedergeborene Göttin angesehen, und als solche versucht sie als erstes, die Menschenopfer zu unterbinden, weil sie die ethisch nicht vertreten kann. Der Doktor warnt sie davor, weil die Menschen absolut anders ticken und nicht verstehen können, was daran schlecht sein soll. Selbst das Opfer sagt, dass es zu Ehren der Götter getötet werden will. Das Ganze nimmt daher den befürchteten chaotischen Verlauf.
Das Setting von Space: 1889 liegt jetzt nicht soweit zurück wie die Hochzeit der Azteken, aber schon in 100 Jahren kann sich in den Gedanken der Menschen viel tun. Bei der Gelegenheit kann ich das Buch "Die Welt in 100 Jahren" empfehlen, in dem 1910 namhafte Zeitgenossen ihre Vorstellung des Jahres 2010 schildern. Unter anderem kommen auch oben genannte Ellen Key und Bertha von Suttner zu Wort. Das Buch ist zum Anlass des 100. Jahrestags neu aufgelegt worden und gibt einen interessanten Einblick in die Denkweise der Menschen im frühen 20. Jahrhundert, der Zeit vor dem Großen Krieg. Und dann sollte man bedenken, dass die Welt von Space: 1889 nochmals 20 Jahre in der Vergangenheit liegt.
Also, ganz großer Rat: versuch erst einmal, Dich mit dem Setting und der Gesellschaftsstruktur von 1889 auseinanderzusetzen. Und dann versuch, Dich von allen modernen Gedanken zu befreien und in die Denkweise der Menschen von damals hineinzudenken. Das ist ein ganz wichtiger Prozess vom "Abenteuerspiel" zum echten Rollenspiel. Und dann überlege Dir, ob die von Dir geforderten Änderungen überhaupt noch stimmig sind. Meine Meinung dazu kennst Du ja jetzt. Ich würde keine Idee von heute in eine Welt von gestern portieren. Dann kann ich ja gleich heute spielen.